Sogenannte Brevets werden als Prüfung verstanden, ob man es ohne äußere Unterstützung schafft, eine vorgegebene Strecke innerhalb eines Brutto-Zeitlimits zu vollenden – inklusive aller Pausen und sonstigen Gründen wegen derer man gerade nicht rollt. Unterwegs muss man Nachweise sammeln, dass man die vorgegebenen Wegpunkte tatsächlich erreicht hat. Mittlerweile fährt man bequem GPS-Tracks ab, muss also nicht über die Streckenführung nachdenken.
Brevets fangen mit 200 km an. Dann gibt es 300er, 400er und 600er Brevets. Natürlich auch (deutlich) längere, da gibt es was für jeden Jeck. Die vierjährlich stattfindende Ausfahrt von Paris nach Brest und zurück (PBP) geht über 1250 km und ist sowas wie das Kona der Radfahrer. Der Veranstalter hält dieses Jahr 8500 Startplätze vor – ein organisatorisches Monstrum. Um dabei sein zu dürfen, muss man im Jahr der Austragung Brevets von 200 bis 600 km absolvieren. Entsprechend hoch ist in diesem Jahr die Motivation der Radfahrer.
Nicht so ich.
Diese Vorsaison lief anders als gedacht. Auf dem 200er hätte ich 30 mm Regen gesammelt, zum Termin des 300er war ich krank und ein 400er, welches weniger als 200 km Anreise gehabt hätte, passte nicht in den Kalender. So war das 600er das einzig verbliebene.
Worum geht’s? Spaß? Auch. Wer aber behauptet, dass das immer lustig sei, lügt. Der eigentliche Reiz liegt für mich darin, dass man echt und sicher durch die Nacht muss. Selbst die Schnellsten schaffen die Strecke kaum in 24 Stunden. Sonnenuntergang und Sonnenaufgang sind immer inklusive. Und eben auch draußen auf der Straße zu sein, wenn es niemand sonst mehr ist. Am Abend schräg von den Feiernden angesehen zu werden.
In Spich geht es los. Immer der Sieg entlang bis zur Quelle, Wechsel über die Wasserscheide an die Quelle der Lahn und dieser bis an den Rhein unterhalb von Koblenz folgen. Schwenk auf die Mosel aufwärts bis nach Zell, durch die Eifel an den Rhein und kurz vor dem Ziel noch einmal die Mündung der Sieg grüßen, die noch wenige Stunden zuvor ein Rinnsal aus der Quelle war.
Zum Start hadere ich noch mit dem Garmin und starte hinter den anderen Fahrern. Das ist eigentlich ganz gut so, da zu Beginn oft eine kleine Rally startet und die ersten 50 km viel zu schnell gefahren werden. Ich räume das Feld langsam von hinten auf.
Das erste mentale Tief überrascht mich dieses Mal wieder früh, nach nur 100 km oder so. An sich hat man schon eine gute Radtour gefahren, aber immer noch 500 km vor sich. Ich bin seit 4 Uhr auf und hatte nur ein kleines Frühstück. Käsespätzle Am Gasthof der Lahnquelle bewirken dieses Mal das Wunder um da wieder herauszukommen (es lässt sich aber noch eine Stunde Zeit. Zum Glück geht es von hier bergab). Außerdem bin ich ab Kilometer 150 Teil eines 4-er Teams, also nicht mehr allein.
Unterwegs in fremden Gefilden gibt es viel zu Entdecken. Ein Ort Stromberg, mit der Bushalte „Stromberg Auf der Rutsche“. Es gibt ein weiteres Roth, ein Hamm und noch ein Weimar. Marburg ist ein hübscher Ort – müssen wir mal mit dem Camper hin. Und warum hat der Rhein-Lahn Kreis das Kennzeichen EMS – ich dachte das steht für das Emsland oder so? (Wegen des Kasinoörtchens Bad Ems an der Lahn.)
Gegen Abend begegnet man vielen Fischern an der Lahn, die bis tief in die Nacht hinein ihre Angeln aufgeständert haben, je mit einem kleinen Positionslicht an der Spitze. Auf den Campingplätzen am Wasser spielen die Kinder, die Erwachsenen sitzen unter bunt beleuchteten Pavillons. Je weiter wir uns zu mitternächtlicher Stunde aber Koblenz nähern, desto weniger Menschen sind noch draußen. Der schmale Radweg entlang der Lahn ist tagsüber und langsam befahren bestimmt hübsch. Aber im Dunkeln und bei vielleicht 25 km/h laviert man ziemlich hektisch um die Beulen im Asphalt herum. Ein Mitfahrer fängt sich tatsächlich einen vergessenen Angelhaken in die Flanke seines Tubelessreifens, kann diesen aber erstaunlich gut mit einem dicken Plug flicken.
Die Kontrollstelle in Koblenz ist eine ARAL-Tanke mit Rewe-To-Go. Merkwürdige Völker treffen hier aufeinander: nachtfahrende Radler und jene irrnichtigen Gestalten, die zu nächtlicher Stunde noch an der Tanke in Jogginghose einkaufen gehen.
Als wir etwas später auf den Moselradweg aufbrechen, ist es stockfinster und die Straße gehört uns. Und zwei Frischlingen, die plötzlich aus dem Unterholz über den Radweg huschen und uns noch fast einen Auffahrunfall beschert hätten.
Gegen halb vier erreichen wir endlich Zell, und man erahnt bereits die aufziehende Dämmerung hinter dem Hunsrück. Das Vogelkonzert setzt langsam ein. Es ist Zeit zu schlafen, aber wo? Es ist sehr feucht geworden und die Temperatur ist auf etwa 10 Grad gefallen. Ich habe zwar einen Schlafsack dabei, aber wo soll ich damit hin? Der neue Tag ist ein normaler Werktag, da muss ich damit rechnen, dass Schulkinder plötzlich in der Bushalte stehen. Ich trinke ein Red Bull, welches ich schon über einige 100 km mit mir herumfahre, und folge weiter dem Track in die Eifel. Und siehe da! Ich bin wach und die Beine kurbeln!
Erst gegen 5:00 Uhr morgens, die Sonne geht gleich auf, kehre ich in einer kleinen Kapelle ein. Sie liegt etwas Abseits und es gibt sogar eine gepolsterte Bank. Ich ergänze meine Dankeswünsche an die helfende Maria und schlafe etwas. Vielleicht 30 oder auch 60 Minuten. Es genügt, um mich bis nach Hause zu bringen. Meine Mitstreiter sind entweder weitergefahren oder haben sich schon eher einen Ort zum Ausruhen gesucht, so dass ich wieder allein bin.
Zwei Anstiege weiter finde ich das ersehnte Zwischenziel: einen Bäcker mit belegten Brötchen und Kaffee! Ich kaufe ein und genieße das Frühstück.
Kalorienzufuhr ist nach dem Pedalieren das Wichtigste auf so einer Fahrt, vor Schlafen an Nummer drei. Auf 600 km verbrennt man in Summe etwa 15.000 kcal, also Kalorien für 7 Tage. Essen ist nicht nur eine Frage der Disziplin oder etwa Aufnahmekapazität der Verdauung. Vielmehr hängt es davon ab, ab wann einem der Magen das Isogetränk oder den süßen Riegel wieder entgegen spuckt, weil er es leid ist. Herzhaftes und auch magenfüllendes Essen ist da ein wichtiger Baustein.
Weiter geht es an den Rhein und mit Blick auf den Drachenfels gibt es eine Kugel Eis. Der Rest geht flott. Nach 611 km, 4600 hm und 30:20 Stunden seit meinem Aufbruch am gestrigen Morgen habe ich die letzte Kontrolle erreicht und bin zurück am Auto.
Zu Hause ruft das Bett und ich schlafe so fest ein, dass es schon fast weh tut. Der Rest des Tages und auch der Nachfolgende sind von Erschöpfung aber auch Zufriedenheit gezeichnet.
Nächstes Wochenende ist Ligawettkampf in Bochum. Dann muss ich wieder auf’s Rad…